Wie ich mit 55 endlich erwachsen wurde

Meint sie das ernst, fragst du dich vielleicht bei dem Blogpost-Titel? Wie kann sie als hoffentlich seriöser Coach und Weiterbildnerin sichtbar machen, dass sie vielleicht die ganze Zeit noch nicht erwachsen war? Ist das nicht rufschädigend?

Nun, bevor ich jetzt darüber nachdenke, was du über mich denkst, wenn ich diesen Blogartikel schreibe, steige ich lieber ins Thema ein.

Vor einigen Monaten habe ich in einem Buch gelesen, dass bei vielen indigenen Stämmen, die Frauen etwa mit 52 als erwachsen gelten. Da habe ich doch kurz geschluckt und innegehalten. Ich bin diesen Herbst 55 geworden. Fühle ich mich erwachsen und bin ich es auch, wenn ich wirklich ehrlich zu mir bin?

Tatsächlich kann ich das erst seit diesem Jahr wirklich mit einem herzhaften „Ja“ beantworten. – Also, trotz 35 Jahren aktiver Persönlichkeitsentwicklung wurde ich dann so langsam mit Mitte 50 erwachsen. Weißt du, was ich meine? Und ist das nicht verrückt, dass wir dazu so lange brauchen?

Ich habe mich nun gefragt, woran ich das eigentlich festmache, was Erwachsensein für mich bedeutet – hier will ich meine fünf wichtigsten Learnings mit dir teileen:

1. Freiheit beginnt da, wo die Meinung anderer endet

Erinnerst du dich an den Moment, als du dich das letzte Mal gefragt hast: „Was werden die Leute denken?“ Das kann eine Entscheidung gewesen sein, die dir am Herzen lag – etwa die Kündigung eines sicheren Jobs, der Umzug in eine andere Stadt oder eine unkonventionelle Lebensentscheidung. Innere Freiheit beginnt für mich genau dort, wo diese Frage an Bedeutung verliert.

Ich selbst habe jahrelang darauf geachtet, wie mein Handeln von anderen wahrgenommen wird. Sei es im Job, in der Familie oder sogar in alltäglichen Gesprächen – ich war eher regelorientiert und vorsichtig. Ich wollte „richtig“ handeln, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Erst mit der Zeit habe ich gelernt, dass wahre innere Freiheit darin liegt, meine Entscheidungen nach meinen eigenen Werten und Überzeugungen zu treffen, auch wenn es nicht allen Menschen gefällt, mit denen ich zu tun habe.

Ein Beispiel: Vor einigen Monaten habe ich mich entschieden, mein Reihenhaus zu verkaufen. Das stieß in meinem Umfeld auf Gegenwind. Denn Häuser verkauft man in der aktuellen Weltsituation nicht, wo alles Geld unsicher scheint. Ich habe aber gemerkt, es steht meiner äußeren Freiheit im Weg. Mir ist es wichtig, mit weniger Geld und damit Umsatz leben zu können. Und das kann ich nur, wenn ich die hohe Tilgungsrate nicht habe. Das macht mich dann auch innerlich frei, wieder mehr selbstgestaltete Projekte anzugehen, statt finanziell attraktive Projekte anzunehmen.

2. Verantwortung übernehmen: Dein Leben, deine Regeln

Vielleicht hast du schon einmal erlebt, dass du dich in einer schwierigen Situation auf andere verlassen hast – sei es auf Freunde, Familie oder das Schicksal. Eigenverantwortung bedeutet, aus dieser Haltung herauszutreten und zu erkennen, dass du selbst der wichtigste Akteur in deinem Leben bist.

Für mich bedeutete das, aufzuhören, immer wieder die äußeren Umstände für mein Glück oder Unglück verantwortlich zu machen. Es ging dann nicht länger darum, dass die Kinder gerade eine friedliche Phase haben oder dass mein Partner fürsorglich ist. Erwachsen-Sein heißt, sich zu fragen: **„Was kann ich tun, um meine Alltagssituationen so zu gestalten, dass es mir gut geht?“**

Wieder ein kleines Beispiel: Vor ein paar Jahren, habe ich den Sprung in die Vollselbstständigkeit gewagt. Es war bei mir ein kalkuliertes Risiko, weil ich ja bereits über 15 Jahre teilselbstständig war. Aber es war ein bewusster Akt der Eigenverantwortung – und eine der besten Entscheidungen meines Lebens.

3. Ankommen bei sich selbst: Innere Frieden finden

Ein ganz zentraler Wendepunkt des Erwachsenseins besteht für mich in der Frage, ob du schon bei dir selbst angekommen und mit deinem Leben im Reinen bist?

Stell dir vor, du läufst mitten in einer Fußgängermenge in einer größeren Stadt. Es ist weder ein besonderer Moment, noch geht es mir irgendwie besonders. Aber ich spüre, dass ich  mit mir und den Menschen um mich herum verbunden bin. Dass ich genau da bin, wo ich gerade sein will – das ist für mich das Gefühl, „angekommen“ zu sein. Es bedeutet, nicht länger zu suchen, sondern zu wissen, was mein persönlicher Platz in der Welt ist.

Dieses Gefühl hatte ich immer gesucht. Als Scanner oder Multipotenzial, du kennst diesen Begriff wahrscheinlich hatte ich lange Zeit das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein: nach dem richtigen Job, der passenden Beziehung oder einem Lebenssinn. Angekommen bin ich dann, als ich mit der inneren Geniusarbeit festgestellt habe, dass es mein Sinn ist, andere zu unterstützen, ihren persönlichen Sinn, ihren Purpose zu finden und damit in ihre Größe, in ihr bestes Selbst peu à peu hineinzuwachsen.

So wird manchmal aus einem vermeintlichen Manko oder einem Lebensthema und Lebensschmerz eine Bestimmung, indem ich anderen auch damit helfe, worin ich in einem langen Prozess bei mir angekommen und worin ich gut geworden bin.

4. Selbstfürsorge: Bewusster Umgang mit sich selbst

Ein Teil des bei mir angekommen Seins bedeutet auch, dass ich mich liebe und respektiere. Und dazu gehört die Frage, wie ich mit mir selbst umgehe, wenn es mir nicht gut geht? Erwachsen-Sein bedeutet nicht, immer stark oder perfekt zu sein. Es bedeutet, zu wissen, wie du dich selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen kannst – gerade dann, wenn es dir nicht besonders geht.

Für mich war das natürlich auch ein Lernprozess. Früher habe ich oft einfach weitergemacht, auch wenn ich erschöpft war. Ich dachte, Pausen oder Schwäche zu zeigen sei ein Zeichen von Versagen. Doch Selbstfürsorge ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Sie zeigt, dass du auf dich achtest, weil du dich selbst wertschätzt. Allerdings geht es nicht darum, in der Selbstfürsorge steckenzubleiben, das beobachte ich bei vielen in meinem Alter, dass sie so damit beschäftigt sind, für sich selbst zu sorgen, dass sie gar nicht mehr in der Welt ins Tun kommen.

Für mich selbst zu sorgen, nenne ich gern auch Statemangement. Ich kümmere mich selbst um meinen State, meinen inneren Zustand. Als Erwachsene weiß ich, wie ich meine Gefühle oder Gedanken so verändern kann, dass sie mich nicht runterziehen, sondern mich stärken. Das war ein langer Weg, aber es ist eine Schlüsselkompetenz eines erwachsenen Menschen finde ich. Unsere schlechte Laune an anderen auszulassen oder ein Drama inszenieren, in denen wir unseren Partner mit hineinziehen, kommt mir inzwischen tatsächlich unreif vor, auch wenn ich es früher auch richtig gut konnte…

Viktor Frankl hat mal gesagt: Das Leben stellt uns ständig Fragen oft auch in Form von Herausforderungen vor die Tür. Mir ist klar geworden, dass erwachsensein heißt, dass ich mich da nicht irgendwie „durchwurstle“, das gibt es sogar als Copingstrategie in der Psychologie „muddling throught“, sondern dass ich mich inzwischen mich bei diesen Herausforderungen selbst dabei begleite, das in wohlüberlegten und wohlgefühlten Prozessen zu tun.

5. Wirksamkeit: Spuren hinterlassen in der Welt

Und der letzte Punkt ist so eine Art Selbstläufer, wenn die anderen vier Faktoren gut gegeben sind, habe ich entdeckt. Wir alle haben den Wunsch, Spuren zu hinterlassen – in unseren Beziehungen, in der Arbeit oder in der Welt. Wirklich erwachsen zu sein bedeutet, zu erkennen, dass du weißt, dass du Kraft hast, etwas zu bewirken.

Für mich war das ein besonderer Schritt. Lange dachte ich, ich sei zu introvertiert, zu mittelmäßig, zu sprunghaft, um einen Unterschied zu machen. Doch dann habe ich zum Beispiel durch kleine Mails meiner Newsletter-Leserinnen oder durch Lebenszeichen von Klienten Jahre später gemerkt, dass alles was ich tue eine Wirkung hat – auch jetzt z.B. wenn ich diese Gedanken mit dir teile.

Es ist nicht immer die Wirkung, die ich mir vorstelle. Aber ich vertraue darauf, dass es eine gute, eine nützliche Wirkung ist. Dass du in dem, was ich anbiete, etwas findest, das dir vielleicht eine eigene Idee beschert oder etwas in dir anstößt, was nur darauf gewartet hat, geboren zu werden.

Und der letzte Aspekt hört sich jetzt vielleicht kontraintuitiv an: Ich gebe mir die Erlaubnis immer wieder verrückt zu sein

Das ist die Folge von Punkt 1, dass ich mich immer weniger darum kümmere, was andere von mir denken. Ich erlaube mir Großes zu denken und zu tun.

Der große Charles Bukowski hat mal geschrieben: “Manche Menschen sind nie verrückt. Was für ein wahrhaft grauenvolles Leben!”

Und der nicht minder große Joachim Ringelnatz hat dieses Lebensgefühl des Erwachsenseins wunderbar zusammengefasst:

„Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben“

Ich wünsche dir eine geniale Zeit

Deine Martina

 

PS: Nimm dir gerne drei zentrale Fragen aus diesem Blogartikel mit, mit denen du dein Erwachsen-Sein reflektieren kannst:

  1. Wo fühlst du dich bereits frei, und wo hältst du noch an den Erwartungen anderer fest?
  2. Welche Entscheidung kannst du heute treffen, um noch mehr Verantwortung für dein Leben zu übernehmen?
  3. Was möchtest du hinterlassen – in deinen Beziehungen, deiner Arbeit oder der Welt?